Wenn es um die Geschichte des Ruhrgebiets geht, fallen zumeist die Begriffe Kohle und Stahl. Was jedoch weniger bekannt ist:

Am Anfang war die Kohle

Kohle, das bedeutet zunächst Wärme und Energie. Schon im Mittelalter gruben Bauern an den Hängen der Ruhr nach jenem bräunlich schwarzen Sedimentgestein, um es zum Heizen zu nutzen. Jedoch wurde schon früh erkannt, dass sich Kohle noch für ganz andere Zwecke verwenden lässt. Ein großer Bestandteil der Kohle ist organischer Kohlenstoff, der durch die Karbonisierung von Pflanzenresten entstanden ist. Hinzu kommen unbrennbare Mineralien und Wasser. Durch Verkokung können aus Kohle einzelne Produkte gewonnen werden: Gase, kondensierbare Bestandteile wie Wasser, Teer, Schwefel und Koks. Und eben jener Koks ist besonders wichtig in der Metallgewinnung.

Im Ruhrgebiet entstanden die ersten Eisenhütten bereits im 18. Jahrhundert, wie die St.-Antony-Hütte (1758) und die Gutehoffnungshütte (1782) in Oberhausen. Doch für die Verhüttung wurde zunächst noch Holzkohle verwendet. Erst im Jahr 1849 wurde in der Friedrich Wilhelms-Hütte in Mülheim Roheisen in einem Hochofen erzeugt, der mit Steinkohlekoks beschickt wurde. Damit begann die eigentliche Chemiegeschichte im Ruhrgebiet.

Ungefähr 300 Zechen förderten bereits um das Jahr 1850 große Mengen an Kohle, die in den zahlreichen Kokereien zu Koks weiterverarbeitet wurde. Das entstehende Kokereigas diente zunächst lediglich als Energiequelle im Produktionsprozess. Im Laufe der Jahrzehnte wurden technologische Verfahren entwickelt, die es ermöglichten, dass das Kokereigas auch für die Gewinnung von Zwischenprodukten genutzt werden konnte. Von bestimmten Bestandteilen gereinigt, konnte es jetzt zu chemischen Nebenprodukten wie Ammoniak und Steinkohlenteer verarbeitet werden. 1887 gelang es Albert Hüssener in Gelsenkirchen, Benzol durch Auswaschen des Koksgases zu gewinnen. Und 1913 ließ Friedrich Bergius ein Verfahren zur Kohlehydrierung patentieren, bei dem durch Verflüssigung von Steinkohle Benzin gewonnen werden konnte.

Von der Kohlewertstoffchemie zur Spezialchemie

Der Reichtum an verschiedenen Kohlesorten ließ im Ruhrgebiet eine Kohlenwertstoffindustrie entstehen, die sich auf die Verarbeitung bestimmter Stoffe spezialisierte: Teerprodukte z.B. in den Rütgerswerken in Castrop-Rauxel und Duisburg, Phenole z.B. in der ehemaligen Hibernia Bergwerksgesellschaft in Gladbeck, heute INEOS Phenol GmbH, Benzin z.B. im ehemaligen Hydrierwerk Scholven in Gelsenkirchen, heute Ruhr Oel GmbH, Pigmente z.B. bei Sachtleben in Duisburg oder Zinkfarben z.B. in den Grillo-Werken in Duisburg.

Durch vielfältige Innovationen im Bereich der chemischen Verarbeitung wurde die Produktpalette stetig erweitert. Im Jahr 1928 wurde in Oberhausen ein Werk der Ruhrchemie AG gegründet, das Düngemittel, später Benzin, Katalysatoren und Polymere produzierte. Im Jahr 1938 erfolgte in Marl der Aufbau eines Buna-Werkes zur Herstellung von synthetischem Kautschuk. Durch die günstige Lage am Wesel-Datteln-Kanal und die Nähe zu Kokereien und Hydrierwerken, die sowohl Lieferant als auch Abnehmer von Produkten waren, entwickelten sich die Chemischen Werke Hüls in Marl nach dem Zweiten Weltkrieg zum drittgrößten Chemiestandort in Deutschland. Durch die stetige Substitution von Kohle durch Erdöl konnten im Chemiewerk später weitere vielfältige Produkte der Grundstoffchemie und der Spezialchemie erzeugt werden: Tenside, Polyvinylchlorid, Lackrohstoffe, Polystyrol oder Weichmacher.

Umbruch und Strukturwandel

Ab den 1970er Jahren kam es im Ruhrgebiet zu einem weitgreifenden Umbruch. Der wirtschaftliche Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft sowie Globalisierungstendenzen und der technische Wandel bewirkten auch in der Chemieindustrie enorme Veränderungen in den Unternehmensstrukturen. Aus Rationalisierungsgründen kam es zu einer Verlagerung von Produktionsstätten an andere Standorte in Deutschland bzw. im Ausland oder zu deren Stilllegung. In der Emscher-Lippe-Region, die den räumlichen Schwerpunkt der Chemieindustrie im Ruhrgebiet darstellt, war diese Entwicklung mit einem hohen Arbeitsplatzverlust verbunden.

Die Region stellt sich den neuen Herausforderungen

Viele der großen Chemiewerke öffneten sich daraufhin für die Ansiedlung neuer Unternehmen, es entstanden die sogenannten Chemieparks. Neben der Neustrukturierung der Unternehmen änderte sich im Laufe der Jahre auch die Ausrichtung der Produktion. Zwar bleibt die Petro- und Grundstoffchemie auch heute noch ein wichtiger Pfeiler für die Chemische Industrie im Ruhrgebiet, jedoch konzentrieren sich die Unternehmen mehr und mehr auf die Spezialchemie, die die höchsten Wachstumserwartungen verspricht.

Entscheidender Baustein im Aufbau einer zukunftsfähigen Chemie im Ruhrgebiet war der Ausbau der Bildungs- und Forschungslandschaft. Seit den 1960er Jahren entstehen zahlreiche Universitäten wie die Ruhr-Universität-Bochum (1962), die Technische Universität Dortmund (1968) oder die Universität Duisburg-Essen (1972). Heute bieten rund 100 chemiebezogene Lehrstühle neben ihrer Forschung einen Ressourcenpool zu Aus- und Weiterbildung sowie zur Technologie- und Marktinformation.

Um die chemischen Unternehmen in der Region aktiv bei den Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft zu unterstützen, wurde im Jahr 1997 die ChemSite-Initiative gegründet. Sie hilft bei Neuansiedlungen chemischer Betriebe, vernetzt Wirtschaft und Wissenschaft und setzt sich für die Belange der Chemischen Industrie im Ruhrgebiet ein.

 

Zum Nachlesen:

Schwedt, Georg (2012): Chemieführer Rhein-Ruhr – Regionale Chemiegeschichte von der Kokerei bis zu Brennerei. Klartext Verlag. Essen.

Günter, Roland (2010): Im Tal der Könige - Ein Handbuch für das Ruhrgebiet. Grupello Verlag. Düsseldorf.

Homepage der Metropole Ruhr: Regionalkunde Ruhrgebiet - Kompetenzfeld Chemie.